Wie ich zum Distelkäse kam

Als ich etwa 1993 zum ersten Mal in die mittelitalienischen Marken, in die Nähe von Urbion kam, hatte ich das Vergnügen und die Ehre von meinem leider viel zu früh verstorbenen Freund Klaus-Peter Nickel, mit meiner Familie auf den Bauernhof von Richard & Verena eingeladen zu werden. Wir verbrachten einen Sommer dort und uns erschloss sich eine völlig neue Welt. Wir fanden neue Freunde, wir lernten und wir kamen immer wieder.

Später, Ende der 90er schrieb dann Grazielle Picchi in der Kolumne „Ariadnes Faden in „Caseus“ folgendes:

Das Lab der Artischocken ist zurück
Wir waren davon überzeugt, dass bei der Verwendung von pflanzlichem Lab für die Käseherstellung der Faden der Ariadne gerissen und in der Crete Senesi zum Stillstand gekommen war oder allenfalls als anthropologische Daten im Gedächtnis der Älteren bewahrt wurden, um ihn wieder zu knüpfen, wenn sie in der Stimmung waren, ihre Geschichten zu erzählen. In einem Dorf in der Nähe von Urbino stellen junge Landwirte mit dem Wunsch, die Tradition neu zu interpretieren, einen Kuhmilchkäse aus wilden Artischockenblüten her. Das ist keine leichte Aufgabe. Der Brauch der Cynara hat rituelle Ursprünge und geht auf die Zeit der Sumerer zurück, die den Göttern Schalen mit Milch darbrachten, in denen sich der blaue Blütenstand befand, der reich an gerinnungsfördernden Enzymen ist. Es ist wahrscheinlich, dass sie so die Milch gerinnen ließen, was auf die Verwendung von Pflanzen zur Herstellung des ersten Käsebruchs hindeutet. Seit Jahrhunderten wird mit Hilfe von Pflanzen erzeugter Käsebruch verwendet, und zwar nicht nur Artischocken- und Distelblüten, sondern auch Galiun verum – bis vor wenigen Jahrzehnten für die Herstellung von Chester-Käse verwendet – und Feigensaft. Gegenwärtig ist die Verwendung von pflanzlichem Lab, die vor allem in Mittelitalien und Sardinien weit verbreitet war, fast vollständig verloren gegangen, und nur wenige wissen, wie man es richtig einsetzt, so dass zu befürchten ist, dass das empirische Wissen in diesem Bereich nicht wiederhergestellt werden kann, bevor die alten Käser aussterben. Daher war es eine große Überraschung, dass junge Landwirte, die aus dem Bozener Raum in die Marken gezogen waren, mit der Verwendung der Artischockenblüte begonnen haben. Als sich das junge Paar 1980 in dieser Gegend niederließ, zog es in eine alte, verlassene Pfarrkirche, die mitten auf dem Lande lag. Das eingestürzte Dach und die Brombeeren, die das Haus bedeckten, konnten ihren Enthusiasmus und ihre Entschlossenheit nicht bremsen, auf das Land zurückzukehren und die Arbeit fortzusetzen, so wie sie auch von ihren Vorvätern verrichtet wurde.

Aus der Kolumne „Ariadnes Faden“ in Caseus 2/1997

Verena stellte ihren Distelkäse, eigentlich ein Caciotta, wie er von vielen Bauern in der Gegend hergestellt wird, aus Rohmilch her. Völlig ohne Zugabe von Bakterienkulturen, Säurestartern oder ähnlichem. Dem Käse werden nur die Distelblüten zugesetzt. Gelernt hat Verena diese Art der Käsezubereitung von einer alten Bäumerin, kurz nachdem sie in die Gegend gezogen sind. Die Pflanze, die Artischocken- oder Distelblüte, aus der das pflanzliche Lab gewonnen wird, wurde „Erba cacia“ – Käsegras – genannt und wurde früher von fast allen Hirten in den Hügeln des Montefeltro verwendet.

Ursprünglicher geht es nicht. Der Käse wird dann in allen Stadien seiner Entwicklung gegessen: die Molke wird zu Ricotta verarbeitet und der Käse wird frisch, mittelalt, gereift oder hart genossen. Auch als Reibekäse zur Pasta oder zum Risotto taugt er. Zu selbstgebackenem Brot mundet er oder er wird zum Überbacken für Aufläufe verwendet.

Auf dem Hof von Richard und Verena wird ausschließlich ökologisch & biologisch gearbeitet und das bereits seit einer Zeit, Anfang der 80er, als das noch nicht in aller Munde war.

Wer einen Eindruck vom Leben auf dem Hof in der Nähe von Urbion gewinnen möchte, hier ein Kurzfilm, der von einigen jungen Menschen 2015 gedreht wurde.

Link zum YouTube Video

„Auch wenn ihr nie plant Landwirtschaft zu betreiben, müsst ihr überlegen: Wen unterstütze ich? Diejenigen, die das Land ruinieren oder diejenigen, die es erhalten wollen.“
Richard Menghin

Mehr dazu ab Seite 204 in dem wunderbaren Buch:

Die Kunst, von oben zu leben: Bei Südtirols Bergbauern. 21 Porträts
Florian Kronbichler & Christjan Ladurner
Haymon Verlag
Sprache: ‎Deutsch
Gebundene Ausgabe: ‎216 Seiten
ISBN: ‎978-3709971383
€ 25,89